Umweltstiftung NatureLife beklagt ökologischen Staatsbankrott: Neuer ‚Vertrag‘ zwischen Bauern und Gesellschaft notwendig
Buchreport schlägt Alarm - 100 Millionen Insektenschutzprogramm verfehlt Ziel
Berlin/Stuttgart. „Wir haben in Deutschland und Europa binnen 50 Jahren die Schöpfung quasi halbiert und mehr Arten an den Rand der Ausrottung gedrängt als dies in 50.000 Jahren zuvor der Fall war. Doch es wird weiter gewurstelt als gebe es keinen ökologischen Staatsbankrott“, kritisierte die Umweltstiftung NatureLife-International. Unter dem Druck etlicher jüngerer Studien zum Insekten- und Artensterben hat Bundesumweltministerin Svenja Schulze ein 100 Millionen Euro schweres Rettungsprogramm vorgeschlagen, vorwiegend zur Finanzierung von Forschung und Monitoring. „Doch dieses Programm ist nicht zielführend um den ökologischen Staatsbankrott abzuwenden“, so Claus-Peter Hutter, Präsident der Umweltstiftung NatureLife-International (NLI) und Mitautor des soeben erschienenen Buchreports ‚Das Verstummen der Natur – Das unheimliche Verschwinden der Insekten, Vögel und Pflanzen – und wie wir es noch aufhalten können‘ (Verlag Ludwig). „Wer so lange forscht, bis keine Insekten mehr vorhanden sind, hat den Ernst der Lage nicht erkannt“, so Hutter weiter. Dabei sei eine der wesentlichen Ursachen seit langem erkannt: Die durchindustrialisierte Landwirtschaft. Alle Bemühungen der EU, die Agrarwirtschaft
‚grüner‘ zu gestalten, sind weitgehend ins Leere gelaufen. Noch immer werden Subventionen nach Größe der Flächen bzw. Größe der Viehbestände bezahlt. Das Ausnehmen kleiner Grünstreifen an den Feldrändern sei nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, bemängelt jetzt Hutter bei der Buchpremiere (22. Oktober 2018) in Berlin. Den 100 Millionen für den angeblichen Insektenschutz würden nämlich viele Milliarden falsch eingesetzter, die biologische Vielfalt immer mehr vernichtenden Agrarsubventionen gegenüberstehen.
„Deshalb brauchen wir einen neuen ‚Vertrag‘ zwischen den Bauern und der Gesellschaft“, sagt Volker Angres, Leiter der ZDF-Umweltredaktion und ebenfalls Mitautor von ‚Das Verstummen der Natur‘. Landwirte wollen wie alle anderen Berufstätigen auch ein gesichertes Einkommen. Wenn ein erheblich größerer Teil davon künftig für Leistungen bezahlt wird, die der Natur und dem Artenschutz zugutekommen, werden die allermeisten Landwirte nichts dagegen haben, davon ist Angres überzeugt. „Doch alle Bemühungen in Brüssel, die gemeinsame europäische Agrarpolitik entsprechend auszurichten, sind bisher am Widerstand der konservativen Bauernverbände gescheitert“, so Angres.
Als Beispiel nennen die Autoren die Neuregelung der Vorschriften zum Ausbringen von Dünger. Es habe mehr als ein Vierteljahrhundert gedauert, bis die aktuelle verschärfte Verordnung in Kraft treten konnte. Immer wieder hätten die Funktionäre des Deutschen Bauernverbandes durch geschicktes politisches Taktieren einen Aufschub erreicht. Grundlage der Düngeverordnung sei die europäische Nitratrichtlinie aus dem Jahr 1991.
Das klare Ziel: Die Qualität der Oberflächengewässer und damit auch letztlich die Qualität des Grundwassers sollten in Europa deutlich verbessert werden, indem der Nitrateintrag aus dem Düngerüberschuss verhindert und der Einsatz beispielhafter landwirtschaftlicher Verfahren gefördert wird. 1996 trat die erste Düngeverordnung in Kraft. Ergebnis: Die Nitratwerte in unseren Gewässern waren immer noch zu hoch. 2016 beschloss die Europäische Kommission Deutschland vor dem Gerichtshof der EU (EuGH) zu verklagen. Die obersten europäischen Richter in Luxemburg fällten dann am 21. Juni 2018 ihr Urteil. Sie sahen es als erwiesen an, dass Deutschland gegen die EU-Nitratrichtlinie dauerhaft verstoßen hat. Jetzt ist die EU-Kommission wieder am Zug, sie muss einschätzen, ob die Verschärfung der Düngeverordnung, die seit Sommer 2017 gilt, die zwingend notwendigen Verbesserungen bringt. Andernfalls droht ein weiteres Verfahren, das dann allerdings strafbewehrt sein wird mit Geldbußen bis zu dreistelligen Millionenbeträgen. „Die wären dann von uns allen, aus der Steuerkasse zu zahlen, nicht von der Agrarindustrie. Fazit: Ohne das Vertragsverletzungsverfahren hätte die Verschärfung der Düngeverordnung womöglich noch ein paar Jahre länger gedauert“, betont das Autorenteam.
Hutter und Angres sehen die Bundesregierung in der Pflicht. Die Politik müsse sich endlich aus den Fangarmen der diversen Lobby-Kraken befreien, meinen die Autoren über-einstimmend. Nur eine an fachlichen Erkenntnissen orientierte Politik mit klaren Ansagen, Fristsetzungen und strafbewehrten Sanktionen kann die notwendigen Korrekturen herbeiführen und das völlige Verstummen der Natur aufhalten.
Damit stehen Angres und Hutter nicht allein. Ausgerechnet auch die beiden Fachbeiräte des Bundesagrarministeriums sehen ähnlichen akuten Handlungsbedarf: Die Honorierung von biologischer Vielfalt, Tierwohl, Umwelt- und Klimaschutz statt Subventionen mit der Gießkanne sei dringend erforderlich, so die beiden Beiräte (Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz/Wissenschaftlicher Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen) in einer gemeinsamen Presseerklärung (4. Juni 2018).
„Jeder Tag, an dem nichts geschieht, um dem Verstummen der Natur Einhalt zu gebieten, ist ein verlorener Tag“, so Angres und Hutter bei der von Nina Ruge moderierten Buchpremiere mit einer Diskussion der Autoren mit dem Bundesumwelt-Staatssekretär Jochen Flasbarth und dem Präsidenten des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) Olaf Tschimpke in der Urania Berlin.
Die dramatischen Folgen des Artensterbens
Das Bienensterben: längst zur Megaschlagzeile in den Medien geworden, und es wird viel diskutiert. Doch was steckt dahinter? Über Nacht jedenfalls ist der dramatische Verlust der Wildbienen, Schmetterlinge sowie vieler anderer Insekten und Wildtiere nicht gekommen. Volker Angres, Leiter der ZDF-Umweltredaktion, und Claus-Peter Hutter, Präsident von NatureLife-International, weisen nach, dass bereits in den 1980er Jahren vor dem Verstummen der Natur gewarnt wurde. Alarmzeichen gab es schon damals. Nur: Es wollte niemand wissen, auch „die Politik“ nicht. Warum nur? Um den ökologischen Staatsbankrott zu vertuschen? Um der Bauern-Lobby gefällig zu sein? Die Autoren liefern eine intensive Spurensuche, die bei den Taten beginnt und bei den Tätern endet.
„Das Verstummen der Natur – Das unheimliche Verschwinden
der Insekten, Vögel, Pflanzen – und wie wir es noch aufhalten können“
Ludwig Verlag, 336 Seiten, € 20, –
ISBN 978-3-453-28109-7